Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, auf dass ein jeder empfange nach dem, was er getan hat im Leib, es sei gut oder böse.[1]
Wenn Paulus, wie es im zweiten Brief an die Korinther geschieht, festhält, dass alle offenbar werden müssen vor dem Richterstuhl Christi, dann ist das in zweierlei Hinsicht ernüchternd. Zum einen wird einem bewusst, dass kein Handeln außerhalb des göttlichen Gerichtes existiert. Jede einzelne Handlung ist ihm immer schon unterworfen, schließlich ist Gott imstande, das eigene Außen- und Innenleben jederzeit auszuleuchten. So ist jegliches Handeln unvermeidlich ein göttlich beobachtetes. Zum anderen ist das in der Hinsicht ernüchternd, als es kein rein moralisches Handeln aus echter, eigener, ausschließlich guter Motivation heraus geben kann.[2] Es kann, ja muss einem bewusst sein, dass man für das, was man jetzt tut, irgendwann von Gott gerichtet wird. Folglich kann man eigentlich gar nicht anders, als sein Handeln auf die Ansprüche zuzuschneiden, die Gott a priori daran richtet.
Für Günther Bornkamm ist deshalb der Lohngedanke im Neuen Testament der Ausdruck der Tatsache, dass der Mensch mit all seinen Entscheidungen und seinem Tun auf die endgültige und ewige Entscheidung Gottes über ihn zugeht, dass alles Tun des Menschen unwiderrufliche Folgen hat – zum Heil oder Verderben –, dass bei allem Tun und Lassen der Menschen auf Erden – unabhängig von deren Wünschen und Gedanke – vor Gott und in der Ewigkeit etwas Endgültiges und Bleibendes herauskommt, dass alles, was hier vergangen ist, vor Gott Gegenwart ist, was von Menschen vergessen wird, vor ihm unvergessen aufgehoben und offenbar ist wie die Seiten eines aufgeschlagenen Buches – auch das bescheidenste Werk, ein Becher kalten Wassers, den Geringsten gereicht,[3] wie jedes unnütze Wort, das Menschen geredet haben.[4] Diese Erwartung gibt allem Tun und Lassen erst seinen Entscheidungsernst auf Leben und Tod. Die kommende Entscheidung Gottes über den Menschen wird darum zu der eigentlichen Realität, von der her und auf die hin er lebt, ob er es weiß oder nicht, ob er sich darauf einlässt oder nicht. Der Richterspruch Gottes trifft den Einzelnen immer, in genauer Entsprechung zu seinen Taten und Untaten, seinem Gehorsam und Ungehorsam. So ist der Lohngedanke der Ausdruck für die unlösbare Bezogenheit der zeitlichen irdischen Existenz des Menschen auf die ewige Entscheidung Gottes.[5]
Die ewige Entscheidung Gottes ist damit immer auch schon jetzt involviert, in jede aktuelle Situation, in der man selbst eine gewisse Entscheidung treffen muss. Insofern wirklich alles, was man tut und denkt, dem nicht zu umgehenden göttlichen Gericht untersteht, ist dieses oft latent, dafür aber permanent anwesend, also auch dann, wenn man es gerade nicht zur Kenntnis nimmt. Dadurch ist man zwar nie unbeobachtet, das jedoch führt keineswegs zu einer Selbstpreisgabe, denn: Wo der Lohn Gottes verheißen und erwartet wird, da ist der Mensch in der Niedrigkeit und Begrenztheit seiner geschöpflichen Existenz ernst genommen.[6] Die je bevorstehende Entscheidung, ob und inwiefern man gottgefällig handelt, obliegt einem selbst – und man muss selbst die Konsequenzen tragen. Im vereinheitlichenden „Element“ Gott – Gott überwacht einen jeden – liegt aus diesem Grund zugleich auch ein singularisierendes; wie man vor Gott – seinem Gott – steht, das ist die diesbezüglich relevante Frage. Obwohl alle vor Gott stehen, in genau dieser Form steht nur man selbst vor ihm.
Dass die ewige Entscheidung Gottes immer und unumgänglich in die aktuell zu fällende involviert ist, kann einen aber auch in einen schwerwiegenden Konflikt treiben, und zwar dann, wenn man selbst davon überzeugt ist, imstande zu sein, die Konsequenzen der Entscheidung, die man trifft, vor ihm rechtfertigen zu können, dabei aber ahnt oder gar weiß, dass diese von den eigenen Mitmenschen nicht verstanden werden und deshalb einen Ausschluss nach sich ziehen kann. Dann steht man vor der Entscheidung, ob das am Horizont wartende göttliche Gericht es einem wert ist, den Verbund, den man mit ihnen bildet, entweder aktiv aufzukündigen oder in Kauf zu nehmen, dass man selbst aus ihm gestoßen wird. Man droht dann in Isolation zu geraten, man bleibt, etwas pathetisch ausgedrückt, allein mit seinem Gott zurück.
Der Konflikt, dem man dabei ausgesetzt wird, ist einer von zwei Weisen der inneren Selbstbeobachtung: Der Selbstbeobachtung durch die Ansprüche anderer, denen man zu genügen versucht und der Selbstbeobachtung durch Gott, dem man gleichfalls verpflichtet ist.[7] Entscheidet man sich dafür, den Ansprüchen der anderen gerecht zu werden, wird man von ihnen als zugehörig erkannt, doch kommt man in einer solchen Situation nicht umhin, gegen das irgendwann folgende göttliche Gericht zu handeln. Entscheidet man sich dafür, die Ansprüche anderer zu verletzen, um vor dem göttlichen Gericht gerade stehen zu können, wird man von diesen als böse erkannt, und das ohne es wirklich zu sein. In ihren Augen scheint man das göttliche Gebot „Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst“[8] zu missachten, was wiederum einen partiellen oder vollständigen Ausschluss rechtfertigen kann.
Bezüglich der Nächstenliebe wäre nun anzumerken, dass sie keineswegs eine Selbstaufgabe erfordert, sondern die Eigenliebe ist das Abbild, dem sie als Vergleichsgröße folgt, was sich im „wie dich selbst“ unmissverständlich ausdrückt. Auch das ist doppelt angelegt: Wo die vorausgesetzte Eigenliebe schwindet, lässt auch die Nächstenliebe nach. Zudem und vor allem ist eine solche Entscheidung, die zum Ausschluss aus dem menschlichen Verbund führt, dann, wenn sie dem göttlichen Gericht folgt, eine von der Nächstenliebe und der Selbstliebe geleitete: Wenn man überzeugt ist, dass aus der aktuell herrschenden Moral eine für alle schlechtere Zukunft hervorgeht, dann ist der Ausstieg geboten. Es ist auf das antizipierte Beste für alle hin zu handeln.[9] Denn eben: Irgendwann wird man sein Handeln vor dem göttlichen Gericht rechtfertigen müssen, weshalb man darauf achten sollte, dass man das jetzt schon kann.
Nun kann man sich die unerhörte Frage stellen, ob diese Gleichung auch ohne Gott „funktioniert“ und sich am noch unverschämteren Akt versuchen, ihn aus ihr zu streichen. Möglich ist das durchaus. Der Konflikt bleibt ohne Gott grundlegend derselbe, anstelle des göttlichen Gerichts erscheint einem nun das ewige Gericht der menschlichen Geschichte, das immer schon über einem thront. Die Entscheidung bleibt eine zwischen den Ansprüchen, die die Mitmenschen jetzt an einen richten und den Ansprüchen einer geistig vorweggenommenen gemeinsam gelebten Zukunft. Wenn man vor der Entscheidung steht, aus einem aktuellen Solidarpakt auszusteigen, weil man aufgrund gewisser Anzeichen glaubt, erkennen zu können, dass er nicht das ist, als was er sich präsentiert und deshalb nicht dazu geeignet ist, eine für alle bessere Zukunft zu erwirken, dann ist es geboten, auch tatsächlich aus ihm auszusteigen. Nur muss man dazu in Kauf nehmen, als böse zu gelten und man tut das natürlich auf die nicht auszusetzende Gefahr hin, selbst falsch zu liegen.
Man wird abwägen müssen: Aus einem Solidarpakt kann man treten, wenngleich einem das nicht leicht fällt, dem Gericht der menschlichen Geschichte entgeht man ebensowenig wie dem göttlichen Gericht. Über ein Recht, eigentlich sogar eine Pflicht zu diesem Ausstieg verfügt man, wenn man glaubt, im Dienste einer besseren Zukunft zu handeln. Denn der Lohngedanke stellt den Menschen in der Vereinzelung vor den himmlischen – geschichtlichen – Richter und gibt ihm keine Ausflucht, in irgendeinem Kollektiv unterzugehen.[10] Wenn einem also die stete Anwesenheit des geschichtlichen Gerichtes einmal bewusst ist, verfolgt einen in analoger Stetigkeit der leicht unheimliche Gedanke, dass man von derselben Geschichte auch schon beobachtet wird, die man durch sein Handeln erst dabei ist zu schreiben.
Wie Gott sieht die Geschichte auch dann zu, wenn man sich unbeobachtet wähnt. Ein gewichtiger Unterschied liegt darin, dass die Geschichte im Gegensatz zu Gott nicht allwissend ist, was dem Einzelnen eine umso höhere Verantwortung auferlegt, in ihrem Sinne zu handeln. Hierin liegt die Bewährungsprobe, der man jederzeit von jener Geschichte ausgesetzt ist, von der man glauben muss,[11] sie könne bessere Resultate zeitigen, als sie das momentan tut. Es handelt sich um nichts anderes, als um einen Gewissenskonflikt, denn im Gewissen gilt es, sich der Bestimmung der Menschheit würdig zu erweisen.[12] Man muss also, das ist der Schluss, der aus alldem zu ziehen ist, sein Handeln vor Gott rechtfertigen können – und das auch und vor allem dann, wenn er nicht existiert.
[1] 2 Korinther 5.10.
[2] Mit dieser Frage habe ich mich hin zwei Texten ausführlich auseinandergesetzt. Hier: https://www.hoheluft-magazin.de/2019/09/gibt-es-rein-moralisches-handeln/. Und hier: https://www.hoheluft-magazin.de/2021/03/koennen-wir-geben-ueber-die-singularitaet-der-gabe/?fbclid=IwAR3LtViVHzTOjkIQQRjg4jeZI_q_HyDsYYirxid6CvZu8z2_lOX_Q_2bBfQ.
[3] Matthäus 10.42.
[4] Matthäus 12.36.
[5] G. Bornkamm, Studien zum Neuen Testament. München 1985: S. 77.
[6] G. Bornkamm, Studien zum Neuen Testament. München 1985: S. 78.
[7] Relevant dazu eine Stelle eine Stelle, an der Jesus von den Pharisäern gefragt wird, welches das höchste Gebot im Gesetz sei. Jesus antwortet mit einem Verweis auf die Gottesliebe, dem höchsten und ersten Gebot. Die Nächstenliebe aber setzt er diesem Gebot gleich. In diesen beiden Geboten hängen für ihn das ganze Gesetz und die Propheten. Matthäus 22.34-22.40.
[8] Das Gebot wird im Alten Testament erhoben: Levitikus 19.18. Die Gottesliebe: Deuteronomium 6.5.
[9] Die etwas ernüchternde Botschaft, dass auch die Liebe unter Beobachtung steht, sei außer Acht gelassen.
[10] G. Bornkamm, Studien zum Neuen Testament. München 1985: S. 77.
[11] Das wiederum bedingt, dass auch ein Atheismus, der in diesem Sinne handelt, glauben muss, dass das möglich ist. Damit, dass es eigentlich gar nicht anders geht, befasse ich mich hier: https://schriftschlag.wordpress.com/2020/06/30/ueber-die-nie-bedingungslose-gabe/
[12] H. D. Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens. Frankfurt am Main/Leipzig 1991: S. 14.