Einsam

Die nach Ansicht des Verfassers treffendste Definition von Einsamkeit stammt nicht etwa von einem bekannten Philosophen, sondern von der kurzlebigen Stuttgarter Punkband Chaos Z: „Einsam fühl ich mich, wenn ich eine Hand suche und nur auf Fäuste treffe.“ Diese Textzeile bestätigt die Hinweise darauf, dass die Anzahl der Menschen, die jemand um sich hat, in einem geringen Maße mit dem Einsamkeitsgefühl der Person korreliert, und die stärksten Einsamkeitsgefühle in Situationen auftreten, in denen der Einsame von anderen Menschen umgeben ist.[1] Offensichtlich kann man „ganz normal“ ins gesellschaftliche Leben eingebunden sein und dennoch – oder eben: gerade deshalb – eine quälende Einsamkeit verspüren. Die Anwesenheit von anderen Menschen ist im Gegenteil nachgerade die Bedingung für diese Einsamkeit. Ohne sie wären auch die Fäuste nicht da, die sie einem entgegenhalten – und sei es nur ihre Anwesenheit im eigenen Geistesleben. Die Einsamkeit des Einsamen liegt folglich darin, dass er eine offene Form sucht, konkret eine offene Hand, die ihm zeigt, dass darin keine Waffe verborgen ist, die Fäuste jedoch, mit denen er sich konfrontiert sieht, wirken als doppelte Bedrohung: Sie drohen „an sich“ und in ihnen kann eine Waffe verborgen sein.

Aber – ist die Einsamkeit so wirklich adäquat begründet? Geht das überhaupt? Sehen wir uns den gesamten, sehr kurzen Text an: „1 Einsam fühl ich mich, wenn ich eine Hand suche und nur auf Fäuste treffe. 2 Einsam bin ich dann, wenn ich eine Hand suche und nur auf Fäuste treffe.“ In der ersten Zeile ist von einem Gefühl der Einsamkeit die Rede, in der zweiten wird ein Ist-Zustand daraus. Die Bedingung dafür, einsam zu sein, ist es, sich einsam zu fühlen. Das ist durchaus nachvollziehbar, denn wer sich einsam fühlt, ist es in den daraus resultierenden Konsequenzen tatsächlich. Aber was ist denn, wenn einen das grundlegende Gefühl trügt? Sicher, ein Gefühl kann durchaus die Art, in der man im Leben steht, (einigermaßen) korrekt wiedergeben, dennoch ist es keine präzise Maßeinheit und schon gar keine, die zur Beurteilungsgrundlage anderer Menschen genommen werden sollte. Da man sich in seinen Gefühlen irren kann, ist es überaus heikel, daraus nicht nur einen Ist-Zustand abzuleiten, sondern auch die Einschätzung der Mitmenschen und der Weise, wie sie einem gegenüberstehen.

Und dann ist da eine Schuldfrage darin verwickelt. Selbst ist man frei davon, man ist ja jemand, der eine Hand sucht, nur: man trifft auf die Fäuste der anderen. Doch wenn man noch einmal zur Kenntnis nimmt, dass ein Gefühl etwas ist, das trügen kann: Ist dasjenige Gefühl, das anderen latente Gewaltförmigkeit unterstellt, nicht selbst gewaltförmig, ja ist es nicht sogar das eigentlich Gewaltförmige? Sicher, es kann zutreffen, die Fäuste, die man sieht, können da sein, aber es ist ja auch möglich, dass man sich vornehmlich seine eigene Einsamkeit begründen und rechtfertigen will. Warum sollte man selbst vorangehen und die Hand öffnen, wenn man ohnehin davon ausgeht, dass alles versiegelt ist, weil das Gegenüber die Faust weiter geballt hält? Man könnte sich zumindest fragen, ob die Einsamkeit nicht (auch) aus der virtuellen Faust resultiert, die man im eigenen Kopf mit sich schleppt.

So ist davon auszugehen, dass die Einsamkeit noch schlimmer ist, wenn man nur noch Fäuste sieht, obschon Hände da wären, man diese aber gar nicht mehr erkennen kann – oder: erkennen will. Man sieht sich in einem brutalen (Lebens-)Kampf verwickelt, der in der intensiven Form, in der man ihn (nach-)empfindet, vielleicht gar nicht stattfindet. Das Gefühl der Nieder-Geschlagen-heit wird so paradoxerweise zum Anlass, jenen Ring, in dem man tatsächlich niedergeschlagen werden könnte, gar nicht erst zu betreten. Insofern stellt das eine seltsam bequeme Entschuldigung für die Feigheit bereit, nicht selbst derjenige gewesen zu sein, der die Hand in einer kritischen Situation geöffnet hat. Müsste man also nicht umgekehrt den Ring – es scheint ja wirklich einer zu sein – deshalb betreten, um zumindest zu versuchen, dort Hände zu schaffen, wo bislang wirklich nur Fäuste sind? Wenn man anlässlich solcher Versuche niedergeschlagen wird – dann ist es an der Zeit, selbst die Fäuste zu ballen.


[1] L. Svendsen, Philosophie der Einsamkeit. Wiesbaden 2016: S. 38.

3 Gedanken zu “Einsam

  1. Guten Tag

    „dort Hände zu schaffen, wo bislang wirklich nur Fäuste sind“

    ich kann anderen keine Hände schaffen
    ich fürchte mich vor meiner eigenen Faust

    mit freundlichen Grüßen
    Hans Gamma

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  2. Guten Tag Herr Gamma!
    vielleicht können Sie es, wenn sie versuchen, die Furcht vor der eigenen Faust abzulegen? Oder umgekehrt: Vielleicht ist die Furcht vor der eigenen Faust der Grund dafür, dass sie anderen keine Hände schaffen können?

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  3. Guten Tag,

    „vielleicht können Sie es, wenn sie versuchen, die Furcht vor der eigenen Faust abzulegen? Oder umgekehrt: Vielleicht ist die Furcht vor der eigenen Faust der Grund dafür, dass sie anderen keine Hände schaffen können?“

    Ich habe mich in meinem Kommentar an Ihre Vorlage gehalten.

    Ihre Empfehlung zum Versuch des Besseren, sie hat eine nackte Seite.
    So, dass sich ein jemand anmassen kann, in einem dort, andere die sich gegen irgendetwas zur Wehr setzen, sich mit offenen Händen, einer überwältigenden Macht besser hinzugeben sollten.

    Durch die eigene Angst, und wie ich das Fürchten vor mir selbst noch heute lernen muss; durch jene Taten in Erinnerung, quer durch die Gedankenwelt, ob ich dem will oder nicht herbeigerufen. Ich werde dabei oft schweißgebadet wach gerüttelt.

    Ich stehe auf meinen Füssen, nicht auf denen der anderen. Was andere mit ihren Händen tun und lassen, liegt in deren Verantwortung.

    mit freundlichen Grüßen
    Hans Gamm

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