Wenn ich sie mir heute zu Gemüte führe, kann ich durchaus noch nachvollziehen, weshalb ich „When the Punks go marching in“ von den „Abrasive Wheels“ aus Leeds einmal zu meinen Lieblingsplatten zählte. Auf hohle Phrasen wie „rauher, ungehobelter Charme“ und ähnliche werde ich in nobler Rücksichtnahme auf des Lesers Gemüt selbstverständlich verzichten und den unumgänglichen performativen Widerspruch habe ich gerne in Kauf genommen. Auch darum, dass der Geschmack nicht zuletzt jenen klassifiziert, der eine Klassifikation vornimmt – in diesem Fall mich selbst –,[1] soll es hier nicht gehen. Alles dreht sich, wie (fast?) überall anders auch, um Regeln. Denn auf der besagten Scheibe findet sich das Lied „First Rule (No Rules)“. Dessen Refrain bringt es griffig auf den Punkt: „No Rules is the first Rule.“
Die daran anschließende, eher rhetorisch anmutende Frage „Are you to hip to see?“ spielt dann einigermaßen unmissverständlich auf die Adressaten einer Botschaft an, die sich als kompromisslose gibt. Man fühlt sich von den Werten, Normen, Konventionen, Restriktionen… der (spieß-)bürgerlichen Gesellschaft in die Ecke gedrängt. Die von ihnen Betroffenen sollen zwar den jeweiligen Vorgaben folgen, selbst jedoch bekundet man, sich nicht(s) diktieren zu lassen. Somit erscheint diese unverfrorene Artikulation als Re-Aktion auf missliche Umstände und nicht etwa als eine erste Setzung – auf diese Frage wird zurückzukommen sein.
Der Text bewegt sich im Spektrum jenes Ausbruchs, der von der nordirischen Punkband „Stiff little Fingers“ exemplarisch besungen worden ist und schöpft dabei nicht einmal den gegebenen Spielraum aus. Alles spielt sich im Rahmen der, wenn auch kontrafaktisch gesetzten, Konventionen ab. Alles nimmt den geregelten Lauf der Dinge. Die inszenierte Regellosigkeit der Punks will sich distinktiv von der kritisierten „regelbasierten Ordnung“ absetzen und kann so gar nicht anders, als diese (ex negativo) zu affirmieren. „Anders“ sein zu wollen, ein „Anderssein“ zu proklamieren, setzt einigermaßen unvermeidlich eine Angleichung jener Gleichen voraus, die mitunter weit weniger gleich sind, als die Anderen es ihnen zuschreiben müssen, um ihre Andersheit überhaupt behaupten und bewahren zu können.
So offenbaren sich denn auch dem Anderssein die Grenzen dessen, was ihm tatsächlich offensteht – und in aller Regel vollzieht sich diese Offenbarung, ohne dass die jeweils Anderen sie sich als solche eingestehen dürfen –: Gefolgt wird nicht etwa keinen Regeln, sondern schlicht: anderen Regeln. So ließe sich in Anlehnung an Wittgensteins „Und der Regel zu folgen glauben ist nicht: der Regel folgen“[2], festhalten: „Und keiner Regel zu folgen glauben ist nicht: keiner Regel folgen.“ Die Explikation der impliziten Regeln ginge mit einer erheblichen Irritation, vielleicht sogar einer Zerstörung des subkulturellen Spiels einher – vielleicht wäre es an der Zeit, die Karten entsprechend offen auf den Tisch zu legen.
So weit, so erwartbar. Der Casus könnte mit einem saloppen Verweis darauf, dass gerade jene, die sich unter bisweilen erheblichen Aufwendungen als Regelbrecher inszenieren, (ungewollt) demonstrieren, wie effizient und nachhaltig Regeln eigentlich wirken, ad acta gelegt werden. Er lässt sich allerdings auch zum Anlass nehmen, sich noch einmal genauer mit exakt dieser Regel zu befassen und das soll jetzt geschehen. Nehmen wir ihn deshalb so richtig ernst, diesen Akt, der von einer Punkband vollzogen wird, eventuell ist er ja doch verwegener, als er es zunächst zu sein scheint.
Eruieren wir dazu zunächst etwas genauer, womit wir es überhaupt zu tun haben. Der Duden definiert Regel wie folgt: „Aus bestimmten Gesetzmäßigkeiten abgeleitete, aus Erfahrungen und Erkenntnissen gewonnene, in Übereinkunft festgelegte, für einen jeweiligen Bereich als verbindlich geltende Richtlinie; [in bestimmter Form schriftlich fixierte] Norm, Vorschrift.“ Im Wikipedia-Artikel, der hier nur konsultiert wird, weil es in der Regel das erste ist, das konsultiert wird, steht ergänzend, dass Regel in der Nebenbedeutung Konvention oder Standard eine Übereinkunft bezeichnet, an die man sich nach allgemeiner Auffassung halten soll.
Doch woher kommt die Regel? Weil sie sich definitionsgemäß auf nichts anderes stützen können als auf sich selbst, sind Derrida zufolge der Ursprung der Autorität, die (Be-)Gründung oder der Grund, die Setzung des Gesetzes in sich selbst eine grund-lose Gewalt(tat).[3] In abgeschwächter Form trifft das zunächst auch auf Regeln[4] zu. Dass wir alle überall und jederzeit in Regeln verstrickt sind, die uns sowohl unterstützen wie auch einschränken,[5] setzt ja recht zwingend voraus, dass jene Regeln, die just diesem Zweck gehorchen, zu irgendeinem Zeitpunkt als solche gesetzt worden sind. Zu fragen wäre indes nach dem Grund beziehungsweise eben der Grundlosigkeit einer gesetzten Regel.
Dazu wäre ein Schritt zurück zu treten, um die etwas naiv anmutende Frage aufzuwerfen, woher eine Regel sich selbst kennen kann.[6] Beantwortet werden kann sie mit einem Verweis auf das geflügelte (Sprich-)Wort: „keine Regel ohne Ausnahme“. Laut Lorraine Daston entkommt keine Regel ihrer Ausnahme[7] – nur entwischt die Ausnahme ihrer Regel noch weniger. Michael Richter verortet gar den „Sinn der Regel in der Ausnahme“. Dem wäre insofern zuzustimmen, als es Sinn einer Regelgebung sein muss, der ihr notwendig immanenten Drohung der Ausnahme vorzubeugen. Die Setzung einer Regel kann demnach zwar als Gewalttat empfunden werden, doch ist sie keineswegs grundlos, denn sie setzt sich – als ihm vorangehender Grund – in der Regel jenem potentiell möglichen Verstoß gegen sie entgegen, den sie vermeiden will. Daher kennt sie sich auch. Eine Regel bricht demnach nicht in einen vor-regelbasierten oder regelfreien Zustand hinein. Gesetzt ist sie unvermeidlich und immer schon, die Frage ist eher, wie sie einen gegebenen Fall gesetzt wird.
Wenn die Abrasive Wheels keine Regel als erste Regel fixieren, dann treten sie als ultimative Regelgeber auf. Schließlich setzen sie eine Regel, über die hinaus nichts mehr gesetzt werden kann.[8] Die bloße Tatsache, dass eine solche erste Regel gesetzt wird, die auch schon auf all das einwirkt, was ihr nachfolgen wird, erinnert frappant an den einen Gott, der sich als solcher überhaupt erst etabliert, indem er im Rahmen eines gleichfalls ersten Gebotes einen radikalen Alleinvertretungsanspruch formuliert: Du sollst neben mir keine anderen Götter haben.[9] Die Abrasive Wheels agieren unverschämterweise noch eine Spur göttlicher als Gott selbst: Während der eine Gott im ersten Gebot des Dekalogs „nur“[10] keine anderen Götter mehr neben sich duldet und damit den Zweck verfolgt, seine unbedingte Autorität als Gebotsgeber zu sichern, steht die erste Regel, die von einer Punkband aus Leeds gegeben wird, für sich selbst – und wirklich nur für sich selbst.
Während Gott sich derart die Bedingung der Möglichkeit eröffnet, neun weitere Gebote zu erlassen und durchzusetzen, setzt diese eine ominöse erste Regel sich an den Grund von allem, was ihr nachfolgen könnte – allen möglichen Nachfolgeregeln –, um es von dort aus aufzulösen. Die Setzung dieser Regel kann konsequenterweise noch nicht einmal eine andere Regel neben sich dulden. Jeder Versuch, eine solche zu etablieren, muss auf diese eine erste Grundregel zurückgeführt werden. Wird sie das, erkennt sie, dass ihr keine andere Option offensteht, als an dieser zu zerbrechen.
Obgleich die Punks sich hier als Kontrastfläche zu regelbefolgenden (Klein-, Spieß-…)Bürgern inszenieren, wird tatsächlich eher das Gegenteil eines Zustandes der Absenz von Regeln beschworen. Das wiederum wird an der Paradoxie deutlich, die einer Forderung wie „Tu, was du willst“ inhärent ist: Wer auf diese Aufforderung hin tut, was er will, tut gerade nicht, was er will, sondern er folgt exakt dieser Aufforderung. Er folgt somit, man ahnt es, einer Regel, die deshalb mit einigem Zwang auf ihn einwirkt, weil sie, um sich selbst gerecht werden zu können, behandelt werden muss, als gäbe es sie nicht. Zweck der Unsichtbarmachung einer solchen Regel ist der oben beschriebene: Der nur vermeintliche Regelbrecher soll in den Ruf des Regelbrechers gesetzt werden – was, um einen Kreis zu schließen, der seiner Natur nach nicht geschlossen werden, das Befolgen solcher impliziten Regeln verlangt.
Wer keine Regel als erste Regel setzt, setzt in diesem Akt eine Regel, die kein „Laissez-faire“ erlaubt, sondern einem viel mehr abverlangt, als jede andere Regel es je könnte. Keine Regel als erste Regel erfüllt ihren Existenzweck genau dann, wenn sie zwar latent anwesend ist, aber nicht mehr „aktiv werden“ – „eingreifen“ – muss, weil sie strikt befolgt wird. Auch und vor allem keine Regel will eingehalten werden, oder anders herum: Regeln agieren sich zwar an ihrem möglichen Bruch aus,[11] aber just keine Regel ist jene Regel, die nicht mehr zu brechen ist. Die Punks, wenn sie denn die Avantgardeposition wieder einnehmen wollen, die sie einmal innehalten, täten folglich gut daran, die eigens gesetzten Regeln ernst zu nehmen. Das würde bedeuten, keine verklemmten Spießbürger mehr zu sein, die sich als Regelbrecher inszenieren, sondern freie Geister, die die eigenen Regeln derart diszipliniert einhalten, dass sie obsolet werden. Wie sagt man so schön: Es gilt, mit gutem Beispiel voranzugehen…
[1] P. Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main 1982: S. 25.
[2] L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen. In: Derselbe. Schriften Band 1: S. 382.
[3] J. Derrida, Der „mystische“ Grund der Autorität. Frankfurt am Main 1991: S. 29.
[4] Da hier die Frage nach dem Grund im Vordergrund steht, kann nicht auf das Verhältnis von Gesetz und Regel eingegangen werden. Das würde einen eigenen Text erfordern. Vgl. dazu: L. Daston, Rules. A short History of what we live by. Princeton/Oxford 2022: S. 30ff, 151ff.
[5] Passend zur Thematik hält Daston fest, dass, nimmt man die impliziten Regeln hinzu, das Netz so dicht gewoben erscheint, dass es kaum mehr einer menschlichen Handlung möglich ist, durch die Maschen zu schlüpfen. Weiter folgerichtig ist deshalb die Dastons Feststellung, dass wir Modernen nicht ohne Regeln leben können, aber eben auch nicht mit ihnen, zumindest nicht komfortabel. Ebenda: S. 1 und 20.
[6] Just diese wirklich nur naiv anmutende Frage habe ich in Bezug auf ebensolche in einem Text über Sprechverbote aufgeworfen: Was ist ein Sprechverbot? Hohe Luft, Philosophie-Magazin, 17. Juli 2019. https://www.hoheluft-magazin.de/2019/07/was-ist-ein-sprechverbot/.
[7] L. Daston, Rules. A short History of what we live by. Princeton/Oxford 2022: S. 263.
[8] Die verwendete Terminologie erinnert an den ontologischen Gottesbeweis von Anselm von Canterbury, der sie tatsächlich entliehen ist. Ich habe mich an folgender Stelle mit diesem auseinandergesetzt: M. Güntert, Die Geburt des ontologischen Gottesbeweises aus dem (Nicht?-)Vollzug des ontologischen Menschenbeweises. Zeitschrift für philosophische Forschung, Volume 72, Number 1, 2018: S. 15-49. https://www.ingentaconnect.com/content/klos/zphf/2018/00000072/00000001/art00002;jsessionid=9edpfj45oosea.x-ic-live-03.
[9] Exodus 20.3.
[10] Das würde den hier gegebenen Rahmen mehr als nur sprengen, dennoch sei darauf hingewiesen: Der Ägyptologe Jan Assmann hat darin eine mosaische Unterscheidung verortet, eine Unterscheidung zwischen wahr und falsch, was eine mit harten Bandagen geführte Diskussion über das – erhöhte? verminderte? – Gewaltpotential dieses einen Gottes ausgelöst hat. Assmann selbst hat diese These, angefangen mit „Moses, der Ägypter“ über diverse Texte hinweg ausgeführt, auch abgeschwächt, wobei er auch darauf hingewiesen hat, dass er auch nur eine schon bestehende Debatte wieder aufgreift. Wer sich mit dieser Thematik vertraut machen will, ist am besten mit diesem Buch bedient, das sowohl die Thesen von Jan Assmann selbst enthält, wie auch solche, die ihm widersprechen oder ihn unterstützen. R. Schieder (Hrsg.), Die Gewalt des einen Gottes. Berlin 2014.
[11] In jeder Domäne, in der hohe und folgenreiche Variabilität herrscht oder in der signifikanter Wandel von Zeit zu Zeit auftritt, müssen die Regeln manchmal gedehnt und gebrochen werden. L. Daston, Rules. A short History of what we live by. Princeton/Oxford 2022: S. 240.
Toller Text, kluge Gedanken!
Habe mich daraufhin hingesetzt und mitgedacht:
Die Regel (regula) war wohl ursprünglich ein Tool, womit man ein Ebenmaß beim Handwerken einhalten konnte.
Anders die Norm(a), die selbst das rechte Maß bestimmte. Irgendwann wurden beide synonym verwendet und damit das Regeln Setzen ermöglicht. Kein Ravensburger Spiel ohne Lesen der Regeln und Spieltheoretiker haben das Ganze dann zur Wissenschaft erklärt.
Ein hoch effizienter, regelbasierter Zeitvertreib ist die Mathematik, schon die Pythagoraer waren der Regelmäßigkeit dicht auf den Fersen und Euklid brauchte nur 5 Axiome, um mit ihnen die Regeln der Geometrie für zweieinhalb Jahrtausende zu bestimmen.
Der Gedanke das dann in die göttliche Schöpfung zu extrapolieren und unser Tun dem gesellschaftlich, moralischen Geregelten einzuordnen, ist nicht verwunderlich. Doch hier zeigt sich auch die Ungeheuerlichkeit der Wunder und sie begleitenden Prophetengestalten, die diese Regelphilosophie um des Jenseits Willens durchbrachen.
Ob man dem Regelbefolgen durch geflissentliches Regeln einhalten, quasi durch Verinnerlichen entkommt, halte ich erstmal für eine Obszönität:
Im Herzen ein Raser!
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Freut mich erstmal! Um beim „erstmal“ zu bleiben“ und mich auf das „erstmal“ am Schluss zu beziehen: „erstmal“ lässt ja ordentlich Raum für das, was da noch kommen mag. So manches dürfte seinen Anlauf als Obszönität genommen haben…
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Lieber Schriftschlag,
Ihr Aufgreifen meines „erstmal“ – das hat gesessen und mich weiter grübeln lassen! Und wie bei einer mathematischen Formel, die man umstellt, um ihre tieferen Implikationen zu sehen, wurde der Schrecken über diese spezielle „Obszönität“ nur noch klarer.
Denn dieses „erstmal“ hat sich nicht etwa in Wohlgefallen oder Verständnis aufgelöst. Nein, es hat sich eher zu der Erkenntnis verdichtet, dass hier etwas fundamental Menschliches auf dem Spiel steht. Der „Raser“ im Herzen, wissen Sie, der ist ja nicht bloß ein Bild für Übertretung. Er ist vielleicht die Chiffre für den unkalkulierbaren Rest, für das, was sich nicht in ein Regelwerk pressen lässt, ohne dass die Essenz verloren geht – so wie Euklid zwar die Geometrie mit fünf Axiomen fassen konnte, aber kein Axiom die Lebendigkeit eines einzelnen Grashalms erklärt.
Wenn nun diese Verinnerlichung von Regeln so weit getrieben wird, dass die Regel selbst „obsolet“ wird – was geschieht dann mit diesem „Raser“? Wird er einfach ausgelöscht, wie eine Variable in einer Gleichung, die sich als Null erweist? Die Vorstellung, dass dieser letzte Funke von, nennen wir es ruhig, ungezähmter Spontaneität, dieser vielleicht chaotische, aber vitale Impuls durch perfekte Regelkonformität ersetzt wird, bis er nicht mehr wahrnehmbar ist… das hat etwas von einer Exorzierung des Lebendigen selbst.
Man stelle sich das vor: Ein Mensch, der die Regeln nicht mehr befolgt, weil er sie als äußere oder auch als bewusste innere Richtschnur erfährt, sondern weil er zur Regel geworden ist. Er ist die Norm, nicht weil er sie wählt, sondern weil keine andere Möglichkeit mehr in seinem System existiert. Das ist dann keine moralische Errungenschaft mehr, das ist für mich der Zustand einer perfekt programmierten Maschine, die aufhört, ein Gegenüber zu sein. Die Propheten, die ich anführte, durchbrachen Regeln um des Jenseits Willen – aber hier wird das Diesseits selbst zu einer Art regelkonformem Jenseits ohne Reibung, ohne Wunder, ohne die „Ungeheuerlichkeit“ des Abweichenden.
Und da liegt für mich der Kern der Obszönität, der mich so schaudern lässt: Es ist der Verlust der Spannung, des bewussten Ringens. Die Freiheit, die ich meine, entsteht doch erst im Angesicht der Regel, in der Möglichkeit des „Anders-Könnens“. Wenn diese Möglichkeit durch totale Verinnerlichung schwindet, ist das Ergebnis eine Art stillgelegte Menschlichkeit. Eine Perfektion, die so glatt ist, dass nichts mehr an ihr Halt findet – kein Zweifel, keine Versuchung, kein spontaner Ausbruch. Das ist die Kälte einer Statue, die einst lebendig war.
Dieser „Raser“ mag unvollkommen sein, aber er ist ein Zeichen dafür, dass da noch etwas Eigenes ist, etwas, das sich nicht restlos in die allgemeine Ordnung einfügt. Ihn durch die Droge der totalen Regel-Verinnerlichung ruhigzustellen, bis er nicht mehr spürbar ist – das ist es, was diesen Gedanken für mich nicht nur „erstmal“, sondern anhaltend und zutiefst obszön macht. Es ist der Schrecken vor der Leere hinter der perfekten Fassade.
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Zunächst einmal wirkt auf mich etwas seltsam, wenn ich mit „lieber Schriftschlag“ angesprochen werde. Mein Name war hier nicht wahnsinnig prominent vertreten, bislang war er nur im Impressum zu finden, aus dem Grund habe ich das geändert: Er steht jetzt auf der Titelseite. Ich heiße Manuel Güntert. Selber können Sie selbstredend bei Ihrem Blognamen bleiben, das betrifft nur mich.
Zu ihrem Text: Ich hätte damit angefangen, dass sich nichts in Wohlgefallen oder Verständnis auflösen muss, aber ich glaube, das wäre in gewisser Weise unredlich, denn just darum dreht es sich. Insofern in einer spezifischen Hinsicht ja, hier steht tatsächlich etwas fundamental Menschliches auf dem Spiel. Nur glaube ich, dass es es in fundamental anderer Weise auf dem Spiel, als es bei Ihnen zum Ausdruck kommt. Ich habe mich bewusst auf den Text von einer Punkband bezogen, die ich früher oft gehört habe und die ich jetzt noch ab und an höre. Man assoziiert „Punk“ im Allgemeinen wohl eher mit Regelbruch und der Titel des Lieds deutet auch in diese Richtung. Das ist natürlich nicht falsch. Aber eigentlich lässt man sich auf etwas ganz anderes, eher Gegenteiliges ein.
Machen Sie sich zunächst keine Sorgen, um den „Raser im Herzen“. Im Text, den ich verfasst habe, geht es darum, ihm zu seinem Recht zu verhelfen. Ich glaube zunächst, dass dieser ominöse „unkalkulierbare Rest“, dessen Chiffre der Raser ja sein soll, von der Regel selbst hervorgebracht wird. Sie artikulieren eine Art Angst, von der Regel „verschluckt“ zu werden oder eben: „seiner Essenz“ verlustig zu gehen. Mit, also zeitlich: nach, der Regel tritt der „unkalkulierbare Rest“ aber erst ins Spiel. Er re-agiert auf die Regel und deshalb ist wenig derart vorhersehbar oder eben: kalkulierbar wie der vermeintlich „unkalkulierbare Rest“. Die „Essenz“, die vor der Bedrohung der Regel abgeschirmt werden soll, ist entsprechend das Produkt dieses Abschirmenwollens und damit weit weniger essentiell, als man das zunächst annehmen könnte.
Wir Menschen sind keine isolierten Entitäten, sondern existieren im Verbund mit anderen. Regeln sind der Art unseres Zusammenlebens gewissermaßen inhärent. Regel ist dann offenkundig nicht gleich Regel, weshalb eher die Frage nach der Sinnhaftigkeit bestimmter Regeln aufzuwerfen wäre. Das zu fassen ist nicht ganz einfach, ich würde es mal daran festmachen, ob eine Regel eher dazu dient, Menschen hervorzubringen oder ob sie eher Menschen bricht.
Das wäre ungefähr der Anspruch einer anarchischen Punkband (deren Ansprüche sich natürlich auch massiv voneinander unterscheiden): Sie geht davon aus, dass aktuell Regeln etabliert sind, die tendenziell Menschen brechen bzw. Menschen dazu bringen, sich gegenseitig zu brechen, und versucht sich entsprechend an der Artikulation von Alternativen. Dafür kann „dieser letzte Funke“, „diese ungezähmter Spontaneität“, dieser „vielleicht chaotische, aber vitale Impuls“ durchaus nützlich sein. Die Alternative sollte aber letztlich in der Etablierung eines Regelgefüges liegen, das Mensch dienlich ist oder sie eben hervorbringt. Der „Raser“ wird, sofern das gelingt, gerade nicht ausgelöscht, sondern ermutigt. Jetzt erst zündet der „letzte Funke“. Ähnlich verhält es sich mit dem Lebendigen selbst, das im Zusammenspiel mit anderen nicht etwa exorziert wird, sondern hervorgeht.
Insofern stünde natürlich weiter eine Wahl offen und wer eine solche Regel wählt, wählt sie, weil er im Zusammenspiel mit anderen erkannt hat, dass diese Wahl ihm und anderen dienlich ist. Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen, aber einer sinnvollen Regel zu folgen, würde ich gerade nicht als gehorchen bezeichnen. Er könnte sich immer noch anders entscheiden, in seinem „System gibt es auch noch andere Möglichkeiten“ aber er greift auf diese Optionen deshalb weniger zu, weil er nicht unbedingt hinter dem zurückbleiben will, was Menschen möglich ist.
Oh doch, das wäre eine moralische Errungenschaft. Einen Generalverdacht gegenüber Maschinen hege ich nicht – auch eine Maschine kann etwas sein, das Menschen hervorbringt –, aber ich kann ihn nachvollziehen. Gerade deshalb: Nein, das wäre alles andere als eine perfekt programmierte Maschine, sondern das wären handelnde Menschen, die auf der Höhe dessen agieren, was ihnen, jetzt formuliere ich bewusst vorsichtig, möglich sein könnte. Die Punks, die ich anführte, brachen Regeln um eines solchen Diesseits willens, was natürlich zu Reibung führte. Aber, und das ist wohl der Kern: Das Abweichende sollte entsprechend auf Regeln reagieren, die (zu sehr) Menschen brechen und dafür etwas in Kauf nehmen. Bei Ihnen droht es mE zu einer Art Selbstzweck zu werden. Es wird nicht differenziert, die Regel erscheint generell als etwas Bedrohliches, und die „Ungeheuerlichkeit“ des Abweichenden als etwas unbedingt zu Bejahendes. Auf so etwas treffe ich öfters und es irritiert mich zusehends.
Es geht dann gleich weiter: zu ringen ist mit der Regel, die Menschen bricht, die Etablierung einer Regel dagegen, die Menschen hervorbringt, versetzt sie erst in den Zustand der Freiheit. Auch das sei wiederholt: Man kann noch immer anders, oder: Die Freiheit, die sie meinen, verbleibt – nur: warum sollte man hinter jetzt offenen Möglichkeiten zurückbleiben? Was sie Freiheit nennen, läuft für mich auf ein zwanghaftes Abweichen und damit eine Verneinung derselben hinaus: Oh, eine Regel, noch nicht mal hinsehen, ich muss jetzt abweichen, sonst droht Perfektion, Verlust der Spannung, keine Wunder und was Sie sonst noch auffahren. Auch das gestaltet sich mE umgekehrt: Dieses zwanghafte Abweichen, das noch nicht einmal mehr darauf achtet, von was es denn abweicht, entspricht für mich einer stillgelegten Menschlichkeit, wirkt roboterhaft und kalt.
Nimmt man zur Kenntnis, dass auch der „Raser“ etwas ist, das überhaupt erst hervorgebracht wird, ändert sich auch der Blick auf den Schluss: Es gilt doch gerade, Unvollkommenheiten durch entsprechende Regelgebung gerecht zu werden. Dann erst hat das je „Eigene“ Raum sich zu artikulieren. Für dieses „Eigene“ gilt gleichfalls gilt: Es ist nicht schon da, sondern es wird im Zusammenspiel mit anderen hervorgebracht. Er kann – Achtung: wieder – gebrochen werden, aber eben: das geschieht durch eine Regelsetzung, die Menschen missachtet. Ihr widersetzt man sich dann mit guten Gründen. Sie muss dann entsprechend auch Menschen durch „Drogen“ – Anspielung auf Soma? – ruhig stellen, weil sie sich selbst nicht traut und die Menschen ihr nicht trauen können.
Was die „perfekte Fassade“ betrifft: ich spreche im Text oben nicht umsonst von der Inszenierung des Regelbruches: Wer es nicht schafft, einer sinnvollen – oder eben: „guten“ – Regel zu folgen, und zwar soweit, dass sie ihm gar nicht mehr als Regel erscheint, der hat es nicht auf Regelbruch um einer möglichen Verbesserung willen abgesehen, sondern auf Selbstinszenierung. Ironischerweise wäre genau das ein Schein, dem kaum ein Sein mehr entspricht und auch nicht entsprechen kann, und da lauert er dann tatsächlich der „Schrecken vor der Leere hinter der perfekten Fassade“. Es ist die kleinliche Angst, dass einem etwas weggenommen wird, was man nie besessen hat.
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